Das Riesling-Ritual
Das Riesling-Ritual

 

 

PROLOG


Die Eröffnungsfeier des 35. Stuttgarter Weindorfs verzögerte sich. Das lag nicht nur an dem Gewitterschauer, der die Gäste im Innenhof des Alten Schlosses unter die Arkaden drängte, sondern auch an Stuttgart 21. Vor den Absperrgittern im Hof und den Toren des Schlosses standen Projektgegner, die mit Plakaten und lautstarken Chören »Schuster weg!« und »Oben bleiben!« verlangten. Halb so schlimm eigentlich, denn vor einem Jahr hatten hier wesentlich mehr Demonstranten protestiert. Damals hatten Abrissbagger zeitgleich und gierig damit begonnen, den Nordflügel des Hauptbahnhofes bis auf die Fundamente abzunagen. Am Tag der diesjährigen Eröffnungsfeier fanden zwar keine Abriss-Aktionen statt, aber vorsichtshalber hatte der Veranstalter Sicherheitskräfte und Polizisten vor Ort gestellt. Derartig bewacht, konnte die schwäbisch-stimmungsvolle Feier mit nur einer Stunde Verspätung beginnen.

Zwischen den Ehrengästen saß ein Herr, seines Zeichens mittelhoher Beamter des Ministeriums für Ländlichen Raum und von Beruf Weinbauingenieur. Gemeinsam mit seiner Gattin lauschte er den Reden des Innenministers und Oberbürgermeisters, die leider teilweise in den Pfiffen der Demonstranten untergingen. Die Gattin begann verschämt durch die Nasenlöcher zu gähnen. Da man aber im Schlosshof sehr gemütlich saß, der Regenschauer überstanden war und die Sonne wieder lachte, der württembergische Wein nicht ausging und dazu allerlei gute Häppchen angeboten wurden, schwanden die Stunden rasch und angenehm dahin.

Die Feier ging friedlich zu Ende, und die geladenen Gäste huschten durch den Hinterausgang, um sich nicht an den Stuttgart-21-Gegnern zu reiben. Obwohl der stattliche Weinbaubeamte und seine kleine mollige Gattin nicht mehr zu den Jüngsten gehörten, hatten sie bis zum Schluss durchgehalten. Untergehakt und gut gelaunt machten sie sich eine Stunde vor Mitternacht auf den Heimweg.

Es gelang ihnen, ohne wesentlich zu wanken, den Schillerplatz zu überqueren, der vor Leuten wimmelte, da die Weinlaubenwirte Feierabend machten. Vom Menschenstrom mitgezogen, passierte das Ehepaar das Nadelöhr der Schiller-Passage und strebte zur U-Bahn-Haltestelle am Schlossplatz.

Im Untergrund auf dem Hochbahnsteig herrschte enormes Gedränge – und deswegen war nicht gleich festzustellen, weshalb die Gattin des Weinbauingenieurs auf die Gleise stürzte. Zwar konnte die U 15 rechtzeitig bremsen, aber der Notarzt diagnostizierte einen tödlichen Genickbruch.

Noch bevor die Polizei eintraf, brach der Herr Weinbauingenieur zusammen und wurde mit Verdacht auf Schlaganfall unverzüglich ins Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht.

Kriminalhauptkommissar Schmoll vom Stuttgarter Morddezernat leitete vor Ort die ersten Ermittlungen. Leider ergaben sich dabei keine Aufschlüsse über den Ablauf des Unglücks.

Sobald der schlaganfallgeschädigte Weinbauingenieur vernehmungsfähig war, suchte ihn Schmoll im Krankenhaus auf. Der Patient war zwar durch eine linksseitige Lähmung behindert, aber sein Kopf hatte offenbar keinen Schaden genommen. Der Schmerz um seine Frau schien weniger groß zu sein als die Sorgen, die er sich um seinen Hund machte. . .