Das Lächeln der Steine
Das Lächeln der Steine

 

Die Bombe

"Fräulein, sind Sie frei?" Er röhrt es in meine Richtung. Über die Glasvitrinen herüber. Ohne mich anzusehen.
Natürlich bin ich frei! Ein freies Fräulein bin ich - ja doch. Frei nicht für mich, sondern für andere. Der Kunde ist König!
"Fräulein, bedienen Sie hier?" Die Dame nimmt mich aufs Korn wie einen Salatkopf auf einem Gemüsestand. Ich fühle, dass ich ihr nicht mehr frisch genug bin. Sie nestelt an ihrer Halskette, die sich unter dem offenen Mantel an Kaschmir-Hügel schmiegt, lässt die Perlen durch die Finger gleiten wie einen Rosenkranz.
Ich setze mich in Marsch, knipse mein Bedienungslächeln an.
Bedienen! Natürlich, dazu bin ich da. Seit zweiundvierzig Jahren bediene ich. Noch zwei Jahre, drei Monate und elf Tage. Urlaub ist schon abgerechnet. Noch 677 Tage, dann leg ich die Beine hoch. Meine Krampfadern und die Arthrose in den Knien gemeinsam aufs Sofa.
Aber heute muss ich noch bedienen. Also vorwärts! Mal sehen, was die zwei von mir wollen. Zugegeben, äußerlich passen sie prächtig zwischen die pompösen Dekorationen des Rosenthalporzellans. Jetzt schaut sie in den Spiegel und zieht sich die Lippen nach. Mich machen diese verdammten Spiegel meschugge. Und auch der Sternenhimmel aus Punktstrahlern und das frigide Neon aus Röhren.
Knacken im Lautsprecher, danach eine sonore Stimme: "Achtung 3000!" langsam, deutlich, dreimal hintereinander.
Auch das noch! Voralarm! Dauernd ist was anderes los in diesem lausigen Laden. Na ja, das kann im nobelsten Kaufhaus passieren. Irgendwas ist im Busch, das ist klar. Da wuseln sie schon los! Huschhusch nimmt jede Kollegin ihren vorgeschriebenen Platz ein: An den Notausgängen, den Aufzügen, den Telefonen. Das ist wichtig. Aber noch wichtiger ist es, die Kundschaft zu bedienen. Bedienen, als ob nichts wäre. "Guten Tag. Bitteschön," sage ich zu der Dame und dem Herrn. Meine Stimme klingt susig, etwas zu tief und tranfunzelig. Trotz Lächeln. Oder gerade deswegen.
Haben mich die beiden überhaupt zur Kenntnis genommen? Sie redet jetzt auf ihn ein, leise, beschwörend, als ob sie ihn zu einem Bankraub oder etwas in der Art überreden will. Ich gehe diskret auf Abstand. Ich warte.
Aus der Nähe verlieren die beiden an Glanz. Sie ist blondiert, blickt aus kajalumrandeten Augen - eine in die Jahre gekommene Barbiepuppe. Er hat als Mund einen Reißverschluss, guckt verbissen, als plagten ihn Verdauungsstörungen. Ich warte. Warte.
Unverhofft strecken sich mir Hände entgegen. Sie - in der Rechten den Teekannendeckel unseres teuersten Hutschenreuther-Service, er - in der Linken einen Rosenthal-Deckel. Seine andere Hand hält eine mir unbekannte Teekanne. Eine Greisin von einer Teekanne! Und nicht ganz sauber. Zwischen hellblauen Glockenblümchen schlängelt sich ein vertrocknetes Schwarzteegerinnsel von der Tülle abwärts wie ein Regenwurm.
"Sie wünschen?" Ich entfalte mein Bedienerinnenlächeln wie einen japanischen Fächer. Wünsche! Bin ich eine Fee? Wer hat heutzutage noch Wünsche? Hier habe ich allenfalls Ansprüche zu erfüllen.
"Der Deckel von unserer Kanne ist zerbrochen", sagt er.
"Du hast ihn zerbrochen", sagt sie.
"Ist das wichtig?" Er knurrt es, scheppert die Kanne auf den Mahagonitisch und haut den Rosenthal-Deckel drauf. "Passt", sagt er.
"Lass mich mal", sagt sie, reißt seinen Deckel herunter, dass es knirscht und setzt ihren Hutschenreuther drauf. Er schiebt sie beiseite, dreht am Deckel, verkantet ihn bis er festsitzt und sich nicht mehr rührt. Sieht mich an mit Fordermiene: Na los, helfen Sie mal, schließlich bedienen Sie hier!
Lautsprecherknacken: "Bitte beachten Sie unsere Überraschungs-Angebote," langsam, deutlich und dreimal hintereinander.
Überraschung?! Das ich nicht lache! 'Voralarm aufgehoben' heißt das. Ab jetzt ist hochoffiziell Alarm! Na bravo!
"Was für Angebote?", fragt die Dame, und ich fummel an dem Kannendeckel und murmel was von makobaumwollenen Boxershorts mit Schmetterlingsaufdruck, vierte Etage, Herrenwäsche.
Wo nur meine Kollegin, die Schmalz, ist? Ah, da hinten wedelt sie mit dem Staubtuch die chinesischen Vasen ab. Sie zieht einen Flunsch, als wär ihr die Petersilie verhagelt. Neben ihr steht unsere Azubi, die Mirjana. Sie kaut an den Nägeln und macht Augen wie ein Kalb, das an seiner Kette zieht. Ist ja klar, Mirjanas Familie kommt aus Sarajewo. Mirjana weiß, was Alarm bedeutet. Sie steht vornübergebeugt wie in Startlöchern. Aber abhauen darf hier niemand.
Was wird schon groß los sein? Eine kleine Störung im Haus. Nachher wird die sonore Stimme 'Ende der Störung' als Entwarnung durchsagen. Wie bisher immer. Irgendeine kleine Störung: Eine anonyme Bombendrohnung, vielleicht ein Brand im Keller, oder in einer entfernten Abteilung ein Verrückter, der um sich schießt. Alles ist schon vorgekommen. Heute ist langer Samstag. Gerammelt voll! Die Kunden tummeln sich zwischen den Auslagen wie eine Gänseschar. Sie schnattern, begutachten, befühlen und bewundern.
Das Personal hat gelassen zu sein, so befiehlt es die Geschäftsleitung. Ernst wird's erst, wenn die dritte Durchsage kommt. Erst das harmlose: "Herr Wolf, bitte zum Hauptausgang!" bedeutet Gefahr. Aber was soll's? Wir sind geschult für diese Möglichkeit. Im Notfall kann das Haus in zehn Minuten geräumt werden. Kein Problem.
Warum schwitze ich nur so? Mit feuchten Händen ist es eine Talentprobe, den Deckel von der Kanne zu lösen. Außerdem werd ich zittrig, weil die zwei Lackaffen gebannt zugucken, wie ich mich abplage. Gleich wird dieser Wichtigtuer sagen, ich solle mich nicht so saublöd anstellen.
Endlich! Geschafft. Ich lege den Deckel auf den Tisch. Vorsichtig. Wie ein Juwel. Ich werde denen schon zeigen, wie man mit Porzellan umgeht.
Sie prüft, ob ihre Kanne auch nicht lädiert ist. Lässt Finger mit purpurnen Nägeln um die Deckelöffnung kreisen und seufzt. Die Perlenkette bäumt sich auf Kaschmirhügeln.
Triumphierend scheppert er den Rosenthaldeckel wieder auf die Kanne. "Der hier ist's", sagt er, "basta."
Er guckt mich an wie ein Lehrer, der das Einmaleins abfragt: "Was kostet der?"
"Ungefähr 40 Mark."
"Soll das ein Witz sein?" zetert sie. "So 'n lumpiger Deckel 40 Mark?"
"Ein Deckel kostet ein Drittel vom Gesamtpreis einer Kanne", ich lächle sanft und entschuldigend.
Er belfert: „Was er genau kostet, will ich wissen!“
Ich rechne auf einem Zettel: "Kanne 126,50 geteilt durch drei - 42 Mark und 17 Pfennige."
Er lässt sich den Zettel geben und rechnet nach, zieht die Augenbrauen hoch und legt seine Stirn in Falten, knurrt jeden an, der dazwischenfragt.
"Bitte-einen-Augenblick-Geduld-noch", säusel ich den Kunden nach, die sich pikiert zurückziehen.
Verdammt heiß hier. Wahrscheinlich ist die Klimaanlage ausgefallen. Hitze kriecht mir den Rücken rauf wie pelzige Raupen. Bin auch feucht unter den Achseln. Habe ich heute früh Deo genommen? Stickige Luft hockt mir auf den Schultern. Kopf brummt. Stirn glüht. Füße brennen. Womöglich doch Feuer?
Die Schmalz bedient Zwiebelmuster. Sieht ganz nach Tafel- und Kaffeeservice für zwölf Personen aus. Macht, wie's scheint, einen Höllenumsatz. Mindestens zweieinhalb Tausend.
Mirjana ist verschwunden. Sicherlich sitzt sie hinten im Lager und heult.
Dicke Luft hier, wirklich. Dass aber auch die Entwarnung nicht kommt?! So lange hat es noch nie gedauert.
Ach Gott, die zwei Nervensägen warten immer noch - erwarten, dass ich ihnen einen billigen Deckel zaubere.
Ich reiß' mich zusammen.
"Wie wär's mit einer neuen Teekanne?", frage ich munter, schneidig, todesmutig und lächle, lächle. Lächle die alte Kanne an und sage: "Dieses Modell gibt es leider nicht mehr, aber ein ähnliches würde ungefähr 50 Mark kosten."
Er kläfft mich an: "Schon wieder ungefähr!" Seine Stirn riffelt sich von den Augenbrauen bis über die Halbglatze. Liebe Zeit, wie ein gewölbtes Wellblechdach!
Warum nur werfe ich ihm seine Teekanne nicht an den Kopf?
"Ich werde Ihnen verschiedene Modelle zeigen", sage ich und stecke ein müdes Flämmchen Selbstbewusstsein an. Die zwei sehen mich an wie Essiggurken! Du meine Güte, was hab ich denn nun wieder falsch gemacht?
Sein Reißverschluss klemmt. Wenn er den Mund wieder aufkriegt, wird er mich fressen! Und sie keift los: "Ich will keine andere Kanne! Wenn Sie, meine Liebe, keinen Sinn für alte Stücke haben, ich jedenfalls lege Wert auf Tradition." Sie dreht mir den Rücken zu und klagt ihn an: "Du hast den Deckel absichtlich zerbrochen, weil die Teekanne von Großtante Erna ist. Nie konntest du sie leiden."
Konnte er nun die Kanne oder Tante Erna nicht leiden? Na, das soll mir egal sein.
Sie wedelt abgestandenen Chanelduft aus ihrem Mantel und verdreht die Augen zu unserem Punktstrahlerhimmel. Gottogott, nun zerrt sie sich den Mantel runter, schmeißt ihn auf den Tisch, dass die Knöpfe über die Politur schrammen, setzt sich auf den Stuhl davor und bockt.
"Fräulein!" Die Dicke im Lodenkostüm scheint mit ihrer Geduld am Ende. Ihr Doppelkinn wabbelt wie Sülze. "Fräulein! Ich warte schon eine Ewigkeit, können Sie mich nicht auch mal bedienen? Alle ihre Kolleginnen sind besetzt."
Besetzt zum Teufel! Ein Klo kann besetzt sein, ein Sitz im ICE oder ein Stuhl in 'ner Kneipe. Wieso sind wir besetzt? Na ja, ich schon, ich bin besetzt von diesen zwei Klugscheißern wie von Geiselnehmern. Und diese Tussi zickt hier rum, als ob die Seligkeit von einem Teekannendeckel abhängt, und das, während vom Keller bis zum sechsten Stock nach einer Bombe gesucht wird. Denn 'ne Bombe muss es mindestens sein, wenn's so lange dauert! - Soll doch diese verdammte Bombe endlich hochgehen! Soll doch die ganze Glitzerabteilung mitsamt diesen zwei Schickimicki-Idioten und ihrer Teekanne in die Luft fliegen! Morgen steht's im Tageblatt. Titelseite, fettgedruckt: 'Unbekannter Bombenleger sprengte Kaufhaus in die Luft. Keine Überlebenden.' Und die Bildzeitung meldet vielleicht noch was von herumliegenden Köpfen, blutigen Eingeweiden und verstreuten Armen und Beinen.
Ich zucke zusammen, weil sich neben mir etwas bewegt. Der Mantel meiner Kundin rutscht vom Mahagonitischchen. Der Dame ist das schnuppe, sie stiert weiter auf ihre Kanne wie auf eine magische Kugel. Ihrem feinen Pinkel sehe ich an, dass er darüber nachbrütet, ob er 42 Mark 17 ausgeben soll oder nicht. Der lässt sich nicht stören. Der Mantel liegt unten. Na, ich bin ja nicht so. Bück ich mich halt auch noch für die dumme Pute.
Peng!!! Ein Knall, als ob ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht. Die Kristallgläser in den Vitrinen klirren nach wie ersterbende Glöckchen.
Mein Gott, Mirjana, schrei doch nicht, als ob du geschlachtet wirst! Und, Leute, steht doch nicht so still und stumm wie Pilze um mich herum und glotzt! Hab's schon kapiert. Die Rosenthal-Terrine! Tausend weiße Splitter versprengt auf schwarzglänzendem Marmorboden. 658 Mark. Ich hab sie beim Bücken vom Regal geschmissen. Mit meinem dicken Hintern.
"Elefant im Porzellanladen!" Der Reißverschluss ist aufgeplatzt und entlässt abgehackte Dackelkläffer. Muss ich mir das gefallen lassen, auch wenn der Kunde König ist? Ich schiele nach dem schwersten Silberleuchter. Oder ist eine Bleikristallvase geeigneter?
Er reißt mir den Mantel aus den Händen. Dann grabscht er seine Teekanne vom Tisch, legt den Arm um seine Gnädige und sie rauschen zur Rolltreppe.
Gott sei Dank, sie sind verschwunden.
Verschwunden ist auch der Rosenthaldeckel für 42.17, er sitzt auf der Teekanne von Großtante Erna und passiert wahrscheinlich gerade den Hauptausgang.
"Ende der Störung!" schallt es aus dem Lautsprecher, langsam, deutlich und dreimal hintereinander.