Die Fäden der Träume
Die Fäden der Träume

 

Der Märchengott

Zwischen zwei kleinen, unbedeutenden Ewigkeiten herrschten auf dem Planet Erde Wesen, die sich Menschen nannten. Sie hielten sich für die Krone der Schöpfung, weil die Götter ihnen einst ihre besten Gaben geschenkt hatten – die Sprache, den Geist und die Seele.
Aber je älter das Menschengeschlecht wurde, desto unberechenbarer und unheilvoller ging es mit diesen Gottesgaben um.
Als die Götter das nicht mehr mit ansehen konnten, beschlossen sie, sich zu treffen und gemeinsam zu beraten.
Lange war ein großes Hin und Her, ein Für und Wider gewesen, an welchem Ort der Erde das Treffen stattfinden sollte. Abgelegene Wüsten waren im Gespräch, unbewohnte Inseln und die einsame Antarktis.
Die Dome und Moscheen, die Tempel und Synagogen schieden aus – alle waren sie einem bestimmten Gott geweiht; sämtliche Gotteshäuser auf der Erde waren verteilt unter den Gläubigen, denn die Menschen hatten nie begriffen, dass die Götter EINS waren und nur verschiedene Namen hatten.
Schließlich wählten die Götter das antike Amphitheater in Ephesos zu ihrem Beratungsplatz.
Alle Gottheiten, die von den Menschen in Tausenden von Jahren angebetet worden waren, versammelten sich. Die 24 000 Sitzplätze auf den steinernen Stufen, die über der Arena aufstiegen, reichten auch für die himmlischen Heerscharen.
Und da es auf der Erde kein Volk ohne Religion gibt oder gegeben hat, kamen die Götter aller Völker nach Ephesos: allen voran die Götter der Weltreligionen – der Gottvater der Christen mit Jesus zur Rechten und Allah mit seinem Propheten Mohammed.
Behäbig und gelassen saß Buddha, der Erleuchtete; etwas beiseite zwar, denn eigentlich war er kein Gott, er hatte nur seine weisen Lehren in die Welt getragen, aber viele Menschen beteten ihn an, ob ihm das nun recht war oder nicht.
Steif und würdevoll schritten die Götter Ägyptens heran, geführt von Isis und Osiris. Auf den Rängen drängten sich die Gottheiten der Naturvölker, Götter der Tiere und Bäume, für Blitz und Donner, für Wasser und Licht; zwischen ihnen die Germanengötter, der große Wotan, Ziu und Frigg.
Der Gott der Kikujus, Ngais, hatte den Mount Kenya verlassen und saß zusammen mit den vielen anderen Göttern Afrikas schwarz und glänzend in der Sonne. Auch Inti, der Sonnengott der Inkas, der Kriegsgott der Azteken und die Götter der Maya – fast vergessen von den Menschen – stellten sich zu dieser  Götterkonferenz ein.
Zeus und Hera waren vom Olymp gestiegen und um sie scharten sich alle Götter, die in Griechenland und später bei den alten Römern Rang und Namen gehabt hatten. Sie fühlten sich hier in Ephesos zu Hause und benahmen sich wie in ihren besten Zeiten.
Die Göttin der Weisheit, Pallas Athene, sprach leise und ernst mit Poseidon, dem Gott der Meere, und mit Mars, dem Kriegsgott. Beide Götter hatten große Probleme auf der Erde, und Athenes Weisheit reichte nicht aus, sie zu lösen.
Zwischen allen lärmte und lachte Bacchus unbekümmert und weinselig.
Artemis, die göttliche Königin der Fruchtbarkeit der Erde, war nachdenklich. Sie dachte an ihren Tempel, der im urgeschichtlichen Anatolien hier in Ephesos gestanden hatte, der so groß und herrlich gewesen war, dass er als eines der sieben Weltwunder gilt. Sie dachte an Paulus, der nach Ephesos gekommen war und den neuen Glauben von Christus verkündet hatte – und wie sie, Artemis, dadurch in Vergessenheit geriet, und ihr Tempel im Moor versank. Sie erinnerte sich daran, wie einige Jahrhunderte später die Araber mit dem Schwert des Islam die Lehre von Mohammed brachten und Allah als einzigen Gott gelten ließen. Artemis dachte an all die Götter, die die Menschen dieses Landes nacheinander angebetet hatten.
War sie, Artemis, die als Isis der Ägypter, später als Vesta der Römer und Lat der arabischen Völker wieder auferstanden war, nicht der Beweis, dass die Götter ineinander verschmolzen, sich ergänzten? Artemis wusste, dass Religionskriege eine Erfindung der Menschen waren.

Die Götter hatten die Erde durchstreift, und Trauer und Zorn über das, was ihnen begegnet war, hatte sie zusammengeführt.
Jahrtausendelang hatten sie zugesehen, wie die Erde immer neu verteilt wurde, wie Völker verschleppt und vernichtet, wie Kriege in ihrem Namen, im Namen der Götter, geführt wurden.
Selbst den Kriegsgöttern grauste vor den Gebeten für diese Schlachten.
Auch jetzt sahen die Götter in allen Erdteilen Kriege, verwüstete Städte und Landschaften und hungernde Kinder. Aber sie trafen auch Menschen, die in Luxus lebten. Doch keiner von ihnen dachte an das göttliche Gebot, ihren Reichtum mit den Armen zu teilen.
Ohne Ende zählten die Götter abgeholzte Wälder, zerstörtes Ackerland und aussterbende Tiere. Grausen erfasste sie, als sie das Elend in den Viehställen sahen: eingepferchte, gequälte Kreaturen, die dem Tode geweiht waren. Je nach ihrer Wesensart fielen die Götter in tiefe Trauer oder brachen in schäumende Wut aus.
Mutlos wanderten sie weiter, atmeten verseuchte Luft und überquerten kranke Meere, Seen und Flüsse. Und der Christengott gestand wehmütig ein, es sei ein Fehler gewesen, die Erde den Menschen untertan zu machen. Allah gab ihm recht, und Buddha nickte zustimmend.
Noch nie war es so ernst gewesen.
Und die Götter kamen zu dem Schluss, dass die Welt nicht mehr zu retten sei. Sie, die Götter der Erde, wussten es: Durch den Leichtsinn der Menschen, aber mehr noch durch ihre Gier nach Macht und Geld, würde dieser Planet binnen einiger Jahrhunderte vernichtet sein. Vielleicht würde er vertrocknen, vielleicht würde alles Leben durch Gifte ausgelöscht werden, vielleicht würde diese Weltkugel durch Atom zerspringen, vielleicht . . .
Langsam, schmerzhaft und endgültig würde die Erde verschwinden.
Aber der Untergang der Erde – das war Sache der Götter!
So saßen sie im Theater von Ephesos, tags unter Sonnenglut und nachts unterm Sternenhimmel, und ein Vorschlag nach dem anderen wurde erwogen und verworfen.
Sintflut, sagte der Christengott. Sie hat schon einmal geholfen. Zugegeben: nicht lange, aber man könnte es versuchen.
Vulkane öffnen, fauchte Hephaistos, der Gott des Feuers. Alles abdecken mit Lava. Dann einige Jahrmillionen warten, bis neues Leben erwacht.
Erdbeben, donnerte Zeus. Die Oberfläche mit allem, was darauf ist, versinken lassen und alles soll von vorn beginnen.
Fasten, sagte Allah. Nicht einen Monat Ramadan, sondern hundert Jahre. Alle Menschen sollen hungern und dürsten und ohne leibliche und geistige Freuden leben.
Die Götter machten es sich nicht leicht.
Nachdem dreimal der Vollmond über Ephesos aufgegangen war, während die Götter zürnten und sich pausenlos berieten, hatten sie den endgültigen Beschluss gefasst: Nach einer Frist von sieben Jahren, soll die Erde aufhören zu existieren – abstürzen, verglühen im Weltall.
Nachdem das verkündet worden war, senkte sich große Stille über das Theater. Die Luft stand heiß und unbewegt über den Rängen, kein Vogel, keine Grille gab einen Laut von sich.
Ein Stimmchen erhob sich. Ein kleiner unbekannter Gott eines kleinen unbekannten Volkes stand winzig und zart in der Mitte der riesigen Bühne.
Es war ein Kind, aber es war ein Gott.
Seine Stimme schwang sich in der wundersamen Akustik des Theaters glockenhell bis zu den obersten Reihen: "Wir alle haben, seit die Erde besteht und es Menschen gibt, uns bemüht, dass sich das Gute durchsetzt. Es ist uns nicht gelungen. Aber, soll alles umsonst gewesen sein? Und gibt es nicht doch Schönes und Gutes, das die Menschen zu herrlicher Blüte gebracht haben? Denkt an die Musik, an die Liebe, an die Dichtung – denkt an die Märchen!
Ich, der Gott der Märchen, kann dieses Urteil, das gefällt worden ist, nicht aufheben, aber ich kann es lindern: Die Erde soll nicht vernichtet werden, sondern die Menschen sollen in einen tausend Jahre währenden Schlaf fallen.
Alle Maschinen werden still stehen, Fabriken und Atommeiler ruhen. Kein künstlicher Dünger, kein chemisches Pflanzenschutzmittel wird die Natur berühren, kein Baum von Menschenhand gefällt, keine Wiese zugepflastert werden. Keines der Tiere kann während dieser tausend Jahre geschlachtet oder zu Forschungszwecken gequält werden.
Ich spinne die Menschen in schöne und edle Träume ein, und unschuldig und unwissend werden sie nach tausend Jahren erwachen und eine neue Chance bekommen."
Die Götter hörten, wiegten die Köpfe und stimmten zu.
Sie kehrten zurück in ihre Reiche im Himmel und auf Erden.
Als die Frist von sieben Jahren verstrichen war, fielen die Menschen auf der Erde in Schlaf.

Nach tausend Jahren versammelten sich die Götter wieder in Ephesos.
Die Marmorstufen waren zerbröckelt und ein Teil der Säulen und Mauern eingestürzt. Nur das ägäische Meer schimmerte wie einst in der Ferne.
Wieder waren die Götter über die Erde gewandert – durch verfallene Städte und über Straßen, die mit Grün überwuchert waren. Sie hatten in allen Erdteilen reine Luft geatmet und saubere, glitzernde Ozeane, Seen und Flüsse überquert. Sie waren durch wilde, gesunde Wälder gestreift und hatten die Tiere begrüßt, die auf dem Boden und in der Luft ihren Lebensraum zurückerobert hatten.
Lange und nachdenklich hatten sie die Menschen betrachtet, die unantastbar und unverletzlich von den Naturgewalten in ihren zerfallenen Palästen und Hütten, in ihren verwilderten Gärten und auf ihren Feldern schliefen.
Nun saßen die Götter auf den moosbewachsenen Marmorstufen des Theaters von Ephesos. Auf verwitterten Steinen sonnten sich schillernde Eidechsen. Schmetterlinge gaukelten über ein Meer duftender Blüten. In der Ebene grasten Pferde, Esel und Schafe. Aus Eukalyptusbäumen und blühenden Oleanderbüschen jubelten die Vögel in den azurblauen Himmel.
Und die Götter begriffen, dass die Erde ohne Menschen zum Paradies geworden war.
Selbst der kleine Märchengott stimmte zu, die Menschen nie mehr aufzuwecken.