Cannstatter Zuckerle
Cannstatter Zuckerle

 

 

PROLOG

 

Am Heiligen See im Tempelbezirk von Karnak schrie eine Frau. Ihr Schrei stieg in den Nachthimmel und zerschnitt die Stimmen von Sethos I. und Ramses II.
Die beiden Gottkönige des alten Ägyptens führten eine angeregte Unterhaltung über ihre Glanztaten im Goldenen Theben, das sie vor mehr als 3000 Jahren zum Ruhme des Sonnengottes Amun hatten erbauen lassen.
Da es deutschsprachiger Abend war, redete Ramses Hochdeutsch. Aber Sethos hatte einen unverkennbar schwäbischen Zungenschlag, der den Leuten einer Stuttgarter Reisegruppe fröhlich-zustimmende Kommentare entlockte. „Schwäbisch war ebe scho emmer a Weltsprach.“ – „Der Sethos woiß, was er ons schuldig isch.“
Wenn nicht gerade ein Scheinwerfer die steinerne Kulisse aus Pylonen, Säulen, Obelisken und Kolossalstatuen in farbige Gespensterwelten verzauberte, war es stockdunkel in der Tempelstadt. Die Frau, die den gellenden Schrei ausgestoßen hatte, war nur kurz zu sehen gewesen, als ein Lichtkegel das Ufer gestreift hatte.
Wegen dem Schrei einer Frau ließen sich die Zuschauer nicht ihr Vergnügen an dem gigantischen Spektakel nehmen. Schließlich hatte jeder 25 Euro Eintritt bezahlt.
Die Touristenmassen, die in dieser Nacht zur Sound- and Light-Show den Tempel bevölkerten, kümmerten sich nicht darum, was am See vor sich ging.
Als die Frau ins Wasser sprang, löste sich ihr Pferdeschwanz und ihre Haarmähne plusterte sich um ihren Kopf auf wie ein rotgoldener Heiligenschein.
Die Show ging weiter.